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1.2.10    12:08     0 Kommentar(e)

Wenn einer eine Reise tut ...

Wie sehr ich doch Bahnfahren liebe – wenn denn mal alles nach Plan läuft. (Bei letzterem ist es im Übrigen ratsam, die günstigen Züge zu nutzen, sie fallen seltener aus als der Hightech-Fuhrpark ...)
Erneuter kleiner Einblick in meine am häufigsten genutzte Zugverbindung: Das Fahrradabteil, in dem ich sitze, kommt kurz vor dem Schlusslicht des Zuges, dazwischen liegt nur der nun vom Schaffner bewohnte Führerstand. Kurz vor Sangerhausen. Eine offensichtlich verwirrte Frau mittleren Alters kommt hektisch an die Schiebetür, schaut mich fragend an und öffnet selbige. Schniefen, nagetierisch Zähne zuvorderst: „Wo isn der Scheff?“ – Mein verblüfftes, dem Buch entrissenes „...?“ lässt sie genauer werden, „Der Schaffner?“ Ich zeige auf die verschlossene, bevorhangte Tür, sie stürmt hin und – kann sie natürlich nicht öffnen. Verzweifelter Blick: Leben und Tod. „Klopfen sie doch mal!“ – Tut sie, eiligst. Zwei Sekunden können ewig dauern. Freundlich überrascht erscheint der Beblaurockte, ein etwas kurzer Karl Marx (Wie groß war eigentlich jener? Sicher kleiner als man anzunehmen gezwungen war, damals hinterm Mond …) Er öffnet und fragt sie nach ihrem Begehr. Dem Anschein nach waren sie vorher schon im Gespräch. Aber vielleicht wird diese sich anspinnende, vertraut anmutende Situation auch vom Zusammenspiel seiner Professionalität und ihrer Aufgelöstheit erzeugt ... Sie in atemlosen Stakkato: „Wir wollten doch aber in Wolferode raus und ich hab doch die Oma dabei und jemand muss doch das Kind abholen und das Essen hab ich doch auch mit hier!“ Nervöses Lächeln zu mir hin, schnell wieder zu ihm hin. „Ich kann doch nicht sonstwohin fahren und ich hab mich schon gewundert, warum fahren wir denn so lange und warum hält denn der nicht an und dann seh ich das Haus und – hahaha – na wir würden ja nicht verhungern, hab doch alles hier ...“ Der Schaffner nickt verständnisgütig und zieht seinen digitalen Fahrplan. „Wo muss ich denn da jetz und wie zurück?“ Seine Freundlichkeit steigt im selben Maße, wie ihre Verwirrung Ausdruck erhält. Gebrauchtwerden tut gut. „Sangerhausen. Achtzehn-neun dann.“ – „Aber so ohne Fahrschein und wann simmer denn dann und könnse mir vielleicht was schriftlich, damit?“ - Beruhigend: „Alles kein Problem, geben Sie mir doch mal Ihren Fahrschein. Gleis drei, dann direkt gegenüber“. Beide ab durch die Schiebetür.
Kurz nach Sangerhausen. Der Zug wird von allerlei Volk geflutet. Sonntagabends, Pendelmenschen mit Pflicht im Gesicht, heute ihrer ungewöhnlich viele. Stau im Gang. Viele Studenten aus dem Ländlichen, auch Wehrdienstverweigerungsverweigerer und Solariumsabonnenten, alle je eine Reise- und eine Laptoptasche sowie eine Plastiktüte. Unsichere Blicke hinter dicken Gläsern, Mützen enthüllen explodierte Papageiennester, dem Wetter zollen Fellkragen und halbversteckte Fußballschals Tribut.
Die Tür zum Fahrradabteil öffnet sich, ein junger Mann kommt rein, ohne Fahrrad, dafür mit Zweiwochentasche. Seltsam, nur Wenige kommen freiwillig ins Quersitzerabteil. Noch Wenigere behüten hier ihr Rad wie ich. Er erwidert den Gruß mit offenem Blick, sicher ein Student, Kassel? Göttingen? Mir missfällt ganz kurz, jetzt nicht mehr ungehört über Pratchett lachen zu können; er platziert sich mir gegenüber. Aus seiner großen Reisetasche kommt sogleich ein Reader zum Vorschein, zuoberst eine farbig gedruckte Übersicht von Gebärdensprache-Gesten. Medizinische Ausbildung, vielleicht? Ich lese weiter und nehme ein paar Minuten später im Augenwinkel wahr, wie er, den Ellenbogen auf die Lehne gelehnt, zurückhaltend Gebärden übt. So haben wir doch alle unsere Gründe für das letzte Abteil.
„Nächster Halt Nordhausen. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.“ Personalwechsel, wie üblich. Karl Marx verlässt uns – die Ablösung ist leider nicht Herr Hanstein. Ihn hier kenne ich noch nicht. Mal sehen, was er so gucken lässt!


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